Habe ich schon mal erwähnt, dass ich kein großer Freund von Syndromen als Diagnose bin? Auch wenn viele Patienten das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie mit einem Syndrom eine genaue Diagnose ihrer Probleme hätten, so ist das nicht der Fall. Das HWS Syndrom bildet hier keine Ausnahme.

An sich ist das HWS Syndrom nämlich ein Sammelbegriff für verschiedener Diagnosen, die von der Halswirbelsäule ausgehen oder die Halswirbelsäule betreffen.

In diesem Artikel kannst Du erfahren, was die „Diagnose“ HWS Syndrom eigentlich bedeutet, welche Symptome auftreten können und was das für die Behandlung bedeutet. Zudem erfährst Du, was mein Problem mit Syndromen ist und auch, warum ich diese und ähnliche Diagnosen trotzdem selbst häufig nutze.

Was ist eine Diagnose?

Das Wort Diagnose kommt vom griechischen Wort diágnosis, was auf Deutsch soviel heißt wie Unterscheidung oder Entscheidung. Sie stellt das Ergebnis der Feststellung einer Krankheit dar. (1,2)

Die Diagnose bildet somit den Abschluss bzw. das Ergebnis der Untersuchung und führt uns zu einer entsprechenden Behandlung der Problematik. Je genauer die Diagnose gestellt werden kann, desto konkreter lässt sich auch eine Behandlung planen. (1,2)

Wenn Du jetzt überlegst, wie schnell oft eine Diagnose gestellt wird, wenn Du beim Hausarzt oder auch Orthopäden bist, was denkst Du, wie genau kann diese Diagnose sein? Als kleine Zusatzinfo für diese Überlegung: Im Durchschnitt verbringen Patienten in Deutschland ca. 7,6 Minuten beim Allgemeinmediziner. (3)

Überleg einfach mal kurz, was Du in 7 Minuten erledigen kannst. Denkst Du, es ist realistisch, Dir in dieser Zeit ein Problem schildern zu lassen, eine Untersuchung durchzuführen und dem Patienten zu erklären, was sein Problem ist und welche Behandlung dementsprechend die richtige ist?

Ich persönlich halte das in vielen Fällen für sportlich und brauche deutlich länger.

Selbst in den USA liegt die durchschnittliche Zeit beim Allgemeinmediziner übrigens bei 21,1 Minuten (3) und das obwohl (vielleicht auch gerade weil) dieses Gesundheitssystem oft als weniger sozial als unseres beschrieben wird.

Was ist das HWS Syndrom?

Das HWS Syndrom ist, wie viele Syndrome, eine Sammelbezeichnung für Beschwerden. In diesem Falle von Beschwerden, die die die Halswirbelsäule betreffen oder die von der Halswirbelsäule ausgehen. Hierbei kann es sich um orthopädische oder auch neurologische Symptome handeln. (4)

Eigentlich ist es üblich, dass die Diagnose HWS Syndrom als Ausschlussdiagnose genutzt wird, wenn keine größeren Schäden, wie ein Bandscheibenvorfall oder andere konkrete Diagnosen vorliegen. Da es allerdings keine exakte Definition gibt, ist es per se eine schlau klingende Beschreibung von Beschwerden, die von der Halswirbelsäule ausgehen oder diese betreffen.

In manchen Fällen kann es auch eine Verlegenheitsdiagnose sein, weil man nichts Konkretes gefunden hat, was die Beschwerden auslöst, die Ursache aber im Bereich der Halswirbelsäule zu liegen scheint.

Was kann alles eine Ursache sein?

Wenn wir uns mal auf DocCheck (ähnlich Wikipedia für den Medizinbereich) anschauen, welche Ursachen aufgeführt werden, für ein HWS Syndrom (4), dann finden wir hier eigentlich fast alles von harmlosen bis hin zu zeitnah behandlungsbedürftigen Gründen. Kursiv geschrieben findest Du meine Ergänzungen:

  • Degenerative Veränderungen der HWS (Spondylose, Osteophyten)
  • Schleudertrauma (HWS-Distorsion)
  • Funktionelle Verspannung der Nackenmuskulatur
  • Zervikaler Bandscheibenvorfall (selten)
  • Tumoren
  • Wirbelsäulenoperationen
  • Facettensyndrom (ausgelöst durch die kleinen seitlichen Gelenke der Wirbelsäule)
  • Segmentale Dysfunktionen („Blockierung“)
  • Osteochondrose (diverse Verschleißerscheinungen)

Ich persönlich würde aber auch Gründe wie Stress hier mit aufnehmen. Denn gerade bei Stress kommt es zu einer veränderten Schmerzwahrnehmung und vermehrten Verspannungen im Nackenbereich. Auch Unfälle oder Überlastung können eine Rolle spielen.

Welche Symptome können beim HWS Syndrom auftreten?

Auch hier haben wir eine riesige Palette, wenn wir uns das ganze auf DocCheck anschauen (4):

  • Hals- bzw. Nackenschmerzen, häufig mit Ausstrahlung in den Arm
  • Myogelosen (Verspannungen in der Muskulatur)
  • Schwindel
  • Kopfschmerzen
  • Parästhesien, Hypästhesien (Kribbeln, Taubheitsgefühl)
  • Sehstörungen
  • Ohrgeräusche

Allerdings verwundert das auch nicht sonderlich, denn es handelt sich wie schon beschrieben um einen Sammelbegriff für alles, was von der Halswirbelsäule an Beschwerden ausgehen kann. In den meisten Fällen sind meiner Erfahrung nach aber Hals- bzw. Nackenbeschwerden das vorliegende Problem.

Theoretisch würde sich diese Liste übrigens noch erweitern lassen, da die meisten Nerven vom Gehirn ausgehend durch den Spinalkanal der Wirbelsäule ziehen. So ist es möglich, dass auch Probleme im Bereich der Halswirbelsäule die Ursache für weiter unten auftretende Probleme darstellen können.

Das kommt allerdings eher selten vor und spätestens in solchen Fällen würde man das ganze auch meistens nicht mehr als HWS Syndrom diagnostizieren.

Um es mal kurz ganz extrem zu machen, ein Genickbruch und die daraus resultierenden Folgen könnte man auch als HWS Syndrom bezeichnen. Denkst Du aber, dass das jemand machen würde?

Wie wird das HWS Syndrom behandelt?

Die Frage lässt sich an dieser Stelle nicht pauschal beantworten, denn es kommt immer auf die genaue Ursache an.

Ist ein Schleudertrauma und eine daraus entstehende Abschwächung der Muskulatur Auslöser eines Schwindels? Dann sollte hauptsächlich die entsprechende Muskulatur gekräftigt werden.

Ist Stress der primäre Auslöser für Schmerzen und Verspannungen? Dann solltest Du an Deinem Stresslevel arbeiten.

Ein Bandscheibenvorfall sollte wiederum anders behandelt werden, als eine Irritation des Nerven durch Veränderungen im Bereich der Fazettengelenke oder auch Symptome die nach einem Karpaltunnelsyndroms aussehen, aber durch etwas anderes im Bereich der Halswirbelsäule verursacht werden.

Für die Schmerzen und Verspannungen können erfahrungsgemäß manualtherapeutische oder osteopathische Techniken einen Ansatz darstellen und die Beschwerden lindern. Für Nervenbeschwerden können häufig auch Nervenmobilisationen, sogenannte Slider hilfreich sein. Dies sollte aber immer mit dem Behandler abgesprochen werden.

Du siehst, die Behandlung des HWS Syndroms ist vor allem abhängig von Deinen konkreten Beschwerden. Da es sich meistens um eher harmlose Ursachen handelt, lassen diese sich auch meistens gut behandeln.

Welche Probleme können durch solche Diagnosen entstehen?

Wenn das jetzt aber nur ein schwammiger Begriff ist, der mehr oder weniger eine Ausschlussdiagnose darstellt, wieso habe ich dann ein Problem damit?

Wenn Du nach dem ICD Code, der auch für das HWS Syndrom verwendet wird, suchst (M54.2) dann wirst Du unter anderem auf Seiten landen, wie gesund.bund.de (eine Seite des Bundesministeriums für Gesundheit), die unter diesem Code nur die Zervikalneuralgie aufführen. Bei der Zervikalneuralgie entstehen die Beschwerden über eine Reizung der Nerven.

Sobald Patienten hören, dass es um Nerven und mögliche Schädigungen geht, wird das Alarmsystem meist hochgefahren und die Schmerzsensibilität steigt. Das Resultat kann dann eine Steigerung der Schmerzen sein.

Hierzu gibt es übrigens eine spannende Untersuchung im Zusammenhang mit dem Ischiasnerv, um das zu erklären, muss ich kurz ein wenig ausholen:

Der Ischiasnerv und die rückseitige Oberschenkelmuskulatur (Ischiocrurale Muskulatur oder auch kurz Ischios) können durch die gleiche Bewegung auf Dehnung gebracht werden. Zum Unterscheiden, was eher der Auslöser ist, gibt es allerdings auch ein paar Möglichkeiten, wie Kopfbewegungen dazu nehmen.

In der Untersuchung von Coppieters et al. (2005) wurde ein Test (straight leg raise, kurz SLR) genutzt und den Probanden vorher entweder gesagt, dass die Beweglichkeit der Ischiocruralen Muskulatur getestet wird oder aber dass die Beweglichkeit des Ischiasnervs getestet wird. Wenn die Probanden die „Nervenerklärung“ erhielten, führte dies zu einer signifikanten Abnahme der Beweglichkeit. (6)

Worte sind unglaublich mächtig und leider können solche Diagnosen teilweise schneller zu chronischen Beschwerden führen, vor allem wenn Patienten sie nicht richtig verstehen.

Sobald es einen Namen hat, ist ergeben sich manche Patienten der Diagnose, weil sie nicht erklärt bekommen, dass eine Behandlung und auch Heilung möglich ist. Das Thema habe ich übrigens in diesem Artikel schon etwas genauer beleuchtet.

Warum ich es trotzdem als Diagnose nutze

Bei vielen Diagnosen, wie einem Bandscheibenvorfall ist eine Bildgebung notwendig, um diese zu sichern. Vorher gibt es diverse Hinweise, die mich zu einer Verdachtsdiagnose Bandscheibenvorfall hinleiten könnten. Ein MRT oder andere Bildgebung kann und darf ich als Heilpraktiker und Physiotherapeut nicht direkt veranlassen.

Wenn allerdings der Verdacht besteht (oder auch auf einen anderen strukturellen Schaden) und sich hieraus eine andere Therapie ergeben würde, dann schicke ich Dich als Patient zunächst wieder zum Arzt.

Für meine Rechnung brauche ich allerdings eine Diagnose. Da ich mich hier am ICD-10 System orientiere, lande ich nicht selten bei Diagnosen, wie dem HWS Syndrom, auch wenn ich weiß, dass es eigentlich nur ein Sammelbegriff ist und für mich persönlich nicht die Kriterien einer exakten Diagnose erfüllt. Für mich bedeutet eine Diagnose nämlich, dass sich daraus eine konkrete Behandlung ergibt, denn diese ist nach der Diagnose der nächste Schritt.

Ein Bandscheibenvorfall als Diagnose würde mir persönlich also auch nicht reichen, denn mich würde noch interessieren, welche Beschwerden Du hast. Gibt es Schmerzen, die lokal sind oder ausstrahlen? Treten Taubheitsgefühle auf? Kommt es sogar zu Lähmungen? Wann treten die Beschwerden auf? Bei Aktivität, in Ruhe oder auch im Liegen?

All das sind relevante Fragen, die einen großen Unterschied machen bzgl. der Behandlung. Solange diese nicht geklärt sind, ist die Diagnose für mich unzureichend.

Da viele Beschwerden häufig aber auch nicht nur einen einzelnen Auslöser haben, sind diese Syndrome für mich allerdings organisatorisch durchaus ganz nützlich.

Dir als Patient erkläre ich das ganze allerdings deutlich detaillierter während der Behandlung oder auch im Nachhinein, wenn Du noch Rückfragen hast.

Fazit

Das HWS Syndrom ist eigentlich nur eine schlau klingende Umschreibung für Beschwerden, die an der Halswirbelsäule vorliegen oder von dort ausgehen.

Aus diesem Grund lässt sich hier auch nicht direkt eine konkrete Behandlung ableiten. In meiner Zeit als Physiotherapeut hat mich diese Diagnose anfangs immer stark gestört, aus dem eben genannten Grund. Später habe ich dann den Vorteil gesehen, dass es mir therapeutisch mehr Freiheiten gegeben hat.

Wichtiges Take-Away für Dich als Patient: Wenn diese Diagnose bei Dir gestellt wurde und Du verunsichert bist, was denn jetzt ursächlich für Deine Beschwerden ist: Frag denjenigen, der die Diagnose bei Dir gestellt hat, was es in Deinem Fall denn konkret bedeutet.

Da das HWS Syndrom in den meisten Fällen als Ausschlussdiagnose genutzt wird, kannst Du beruhigt sein, da es meistens nichts Schwerwiegendes ist.

 

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