An der Wirbelsäule ist nach einem Bandscheibenvorfall die Skoliose glaube ich das „Krankheitsbild“, über das es die meisten Mythen und Missverständnisse gibt.
Warum die Wahrheit irgendwo zwischen Rollstuhl und ist komplett egal liegt, soll das Thema des heutigen Blogartikels sein.
Ja, es gibt Momente, in denen man eine Skoliose etwas genauer im Auge behalten sollte, das ist bei Heranwachsenden, vor allem im Laufe der Pubertät, wenn auch Wachstumsschübe anstehen. Gerade in dieser Zeit gilt es aber, dass Behandler noch mehr auf ihre Wortwahl achten, im Umgang mit Patienten. Denn Nocebos sind hier leider sehr weit verbreitet und werden teils als Rechtfertigung für unnötige Therapien genutzt.
Was ist eine Skoliose?
Das Wort Skoliose stammt aus dem altgriechischen Wort skolíōsis und bedeutet so viel wie Krümmung. Das stellt auch schon eine gute Beschreibung des „Problems“ dar.
Bei einer Skoliose ist oft das Auffälligste eine seitliche Wirbelsäulenkrümmung (wenn Du von hinten oder vorne auf die Wirbelsäule schaust). Dazu kommt noch eine Rotation der Wirbelsäule.
Am bekanntesten ist vermutlich die S-Form bei einer Skoliose, bei der sich zwei Bögen bilden (ein Punkt, den wir später nochmal aufgreifen werden).
Ursachen
Unterschieden wird bei der Skoliose in zwei verschiedene Varianten. Die idiopathische (auch primäre) Skoliose und die sekundäre Skoliose.
Ungefähr 90 % der Skoliosen sind idiopathisch, das heißt, die Ursache ist nicht bekannt. (2)
Oder um es mit den Worten von Dr. House zu sagen: „Idiopathisch, Lateinisch. Übersetzt: Wir sind Idioten, weil wir nicht rausfinden, was es ist.“ (3) Die Beschreibung ist, glaube ich einprägsamer, auch wenn ich House minimal korrigieren muss, denn das Wort stammt aus dem altgriechischen.
Von der idiopathischen Skoliose sind Mädchen eher betroffen als Jungs und sie tritt meist kurz vor oder in der Pubertät auf. (2) Eine Unterteilung findet hier lediglich anhand des Alters der Entstehung statt (4):
- Säuglingsskoliose (innerhalb 1. Lebensjahr)
- Infantile Skoliose (1. bis 3. Lebensjahr)
- Juvenile Skoliose (4. bis 10. Lebensjahr)
- Adoleszentenskoliose (11. bis 18. Lebensjahr)
- Adulte idiopathische Skoliose (ab dem 18. Lebensjahr)
Demgegenüber steht die sekundäre Skoliose. Hier lässt sich eine Ursache benennen. Die Ursachen werden meist in verschiedene Hauptgruppen unterteilt (4):
- Osteopathische Skoliosen (bedeutet in diesem Kontext durch den Knochenfehlbildungen oder Knochenverformungen bedingt)
- Myopathische Skoliosen (durch primäre Muskelerkrankungen, wie z.B. Muskeldystrophien)
- Neuropathische Skoliosen (durch Nervenerkrankungen)
- Fibropathisch (durch Bindegewebsveränderung wie Narbenzug oder Marfan-Syndrom)
Der Schweregrad wird normalerweise anhand des sogenannten Cobb-Winkels bestimmt. Die Bestimmung dieses Winkels erfolgt anhand einer Röntgenaufnahme der Wirbelsäule, idealerweise im Stand. Der Winkel beschreibt die Krümmung der Wirbelsäule am jeweiligen Bogen der Skoliose.
Nebenstehend findest Du eine schematische Darstellung der Bestimmung des Cobb-Winkels. Als Ausgangspunkte zur Winkelmessung werden die beiden sogenannten Neutralwirbel genutzt (im Bild etwas heller).
Diese stellen den Übergang von einer Krümmung zu einer anderen dar.
Vielleicht auch interessant, der Messfehler wird mit ca. 3° angegeben, das heißt der reale Wert kann auch 3° über oder unter dem gemessenen liegen.
Mögliche Beschwerden
Dieser Punkt lässt sich sehr schwer beantworten. Da die Palette sehr groß ist und nicht zwingend mit dem Cobb-Winkel zusammenhängen muss. Ein Zusammenhang mit Schmerzen scheint zumindest nicht zu bestehen. (6)
Größere Beschwerden, wie Atembeschwerden entstehen beispielsweise nur bei stark ausgeprägten Skoliosen, bei denen es zu einer Enge der Brust- und Bauchorgane kommen kann. (2)
In jungem Alter sind Beschwerden eher selten, hier erfolgt die Diagnose meist eher, da optische Dinge auffallen, wie ein Schulterschiefstand oder ein sogenannter Rippenbuckel. (2)
Als kritische Schwelle wird oft ein Cobb Winkel von 30° (8) oder auch 30-50° (7) angesehen.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Die Therapie richtet sich zum einen am Cobb-Winkel und zum anderen auch am Alter des Patienten bzw. ob er sich noch im Wachstum befindet. Bei dem Cobb-Winkel wird noch unterschieden, ob die Krümmung sich im Bereich der Brustwirbelsäule (thorakal) befindet oder ob auch der unteren Rücken einen Teil der Krümmung beinhaltet (thorakolumbal bzw. lumbal). (9)
Eine allgemeine Empfehlung sowohl für heranwachsende, als auch ausgewachsene Patienten ist übrigens sportliche Betätigung mit Schwerpunkt Rumpfstabilität.
Physiotherapie
Physiotherapie kann ergänzend durchgeführt werden. Hier liegt der Schwerpunkt in der Kräftigung des Rumpfes. Das kann entweder durch allgemeine Übungen erfolgen oder auch durch spezifische Übungen. Beide zeigen eine Effektivität, scheinen sich allerdings bzgl. der Effektivität nicht zu unterscheiden. (7,8)
Auch wenn evtl. weitere Therapiemaßnahmen erforderlich werden, wie ein Korsett oder sogar eine Operation, so wird eine physiotherapeutische Mitbehandlung meist empfohlen (9).
Therapie nach Schroth
Die Skoliosetherapie nach Schroth ist nach Katharina Schroth (1894-1985) benannt. Sie selbst litt unter Skoliose und entwickelte ihr Konzept im Selbstversuch, als medizinischer Laie.
Ziel des Konzepts ist es, anhand gezielter Atem- und Kräftigungsübungen die Wirbelsäule in eine möglichst „gerade“ Position zu bringen, quasi aktiv die Skoliose auszugleichen.
Osteopathie
Laut Leitline kann eine osteopathische Behandlung ergänzend zur Primärtherapie einen positiven Effekt haben, zum Beispiel auf Schmerzen. Auch bei funktionellen Skoliosen aufgrund von Beinlängenunterschieden wird darauf hingewiesen, dass osteopathische Behandlungen sinnvoll sein können. (9)
Allerdings weisen die Autoren auch darauf hin, dass das Evidenzlevel der Studien noch nicht ausreichend sei, um Osteopathie zu einer Verbesserung des Cobb-Winkels zu empfehlen. (9)
Korsettversorgung
Wenn die Patienten sich noch im Wachstum befinden und der Cobb-Winkel der größten Krümmung der Skoliose entweder bei über 25° im Bereich des Brustkorbs oder über 20° mit Beteiligung der Lendenwirbelsäule beträgt, sollte laut Leitlinie zusätzlich ein Korsett genutzt werden. (9)
Durch ein Korsett kann die Progression (das Fortschreiten) des Winkels signifikant gesenkt werden, bei einem Winkel bis zu 40°. Es wird häufig eine Tragezeit von 20h pro Tag (8) oder sogar 18-23h (9) empfohlen.
Da das Tragen eines Korsetts für junge Patienten psychisch belastend sein kann, weisen die Autoren der Leitlinie darauf hin, dass auch auf diesen Aspekt eingegangen werden sollte und bei Bedarf auch eine psychologische Beratung angeboten werden sollte. (9)
Kontrolluntersuchungen
Während des Wachstums sollte eine regelmäßige Kontrolluntersuchung stattfinden, um die Therapie engmaschig zu kontrollieren. In der Pubertät wird eine Verlaufskontrolle in einem Abstand von 4 bis 6 Monaten empfohlen. (9)
Standardmäßig wird häufig Röntgen eingesetzt, um die Verlaufskontrolle durchzuführen, was aufgrund der Strahlenbelastung natürlich nicht optimal ist. Es ist aber nach wie vor die genaueste Methode.
Eine alternative, die sogenannte Rasterstereographie (auch bekannt unter dem Markennamen Formetric), konnte in Studien noch nicht belegen, wie genau sie zur Bestimmung des Cobb-Winkels ist. Erfahrungsgemäß handelt es sich hier um eine Selbstzahlerleistung, die im Vergleich zum Röntgen aber auch ohne Strahlung auskommt.
Laut Leitlinie eignet sie sich nicht als vollwertiger Ersatz des Röntgens, kann aber genutzt werden, um bei einem Teil der Verlaufskontrolle alternativ zum Röntgen eingesetzt zu werden, um die Strahlenbelastung der Patienten zu reduzieren.
Bei dieser Methode werden mittels einer Lampe Linienraster auf den Rücken des Patienten geworfen, die mit einer Kamera aufgezeichnet und einer speziellen Software analysiert werden. (11)
Operation
Warum Asymmetrie nicht immer schlimm ist oder wie viele gerade Bäume kennst Du?
Aber wie kommt es jetzt, dass eine Skoliose oft nicht wirklich Beschwerden bereitet, außer es kommt dadurch zu Einengungen der Organe?
Einen Erklärungsansatz, den ich Patienten gerne mitgebe, ist folgender:
„Geh mal in den Wald und such einen geraden Baum!“
Glaub mir, die Aufgabe habe ich schon vielen Patienten gegeben, bis jetzt fehlt mir noch ein Bild. Wenn Du eins hast, von einem Baum, der natürlich gewachsen ist, dann schick es mir gerne.
Wenn wir die Wirbelsäule von der Seite betrachten, ist schnell erkennbar, dass wir auch hier Krümmungen haben. Man spricht auch von einer Doppel S Form der Wirbelsäule. Hier akzeptieren wir die Krümmungen, da eine komplett gerade Wirbelsäule Belastungen nicht so gut auffangen könnte. Die Krümmungen helfen, dass die Wirbelsäule eher wie eine Feder agieren kann.
Wenn wir uns jetzt wieder der Skoliose zuwenden, dann stellt sich zumindest mir die Frage, ob nicht auch das bis zu einem gewissen Grad normal sein dürfte. Beinlängendifferenzen, zum Beispiel, sind häufig und 1-3 cm auch als Toleranzbereich angesehen werden können, mit dem ein gesunder Körper zurechtkommen sollte. (12)
Wenn der Körper diesen Unterschied nicht über die Wirbelsäule mit einer skoliotischen Veränderung ausgleichen würde, würdest Du vermutlich schief durch die Gegend laufen. Eine ruckartige Korrektur nur über eine Stelle würde vermutlich zu einer höheren mechanischen Belastung führen. Es macht also Sinn, dass Dein Körper in diesem Fall die Korrektur sachte über ein bis zwei Bögen durchführt.
Fazit
Eigentlich lässt es sich schön mit einem Zitat von Paracelsus zusammenfassen: „Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“
Auch bei der Skoliose ist es vom Grad der Verkrümmung abhängig, ob starke Probleme auftreten können oder nicht. Vielfach treten vor allem bei jungen Patienten keine Schmerzen oder andere funktionelle Beeinträchtigungen auf, sondern es fallen lediglich optische Veränderungen auf, die mit der Therapie angegangen werden.
Wenn Patienten sich noch im Wachstum befinden, machen regelmäßige Kontrollen und je nach Schweregrad auch entsprechende Behandlungen Sinn. Im Erwachsenenalter finde ich, sollte eine Behandlung allerdings vor allem an den Beschwerden der Patienten orientiert stattfinden.
Eine kerzengerade Wirbelsäule muss kein Ziel sein. Lass Dir das bitte nicht von außen einreden. Wenn es Dich persönlich allerdings stört, dass Du optisch „schief bist“, kann es ein Ziel sein, durch eine an Dich angepasste Behandlung (die vor allem auch Training mit beinhaltet), daran zu arbeiten. Du solltest Dich hier allerdings nicht von falschen Glaubenssätzen leiten lassen.
Ich habe schon Patienten mit sehr starken Fehlstellungen durch eine Skoliose gesehen, denen es blendend ging, ebenso gibt es Patienten mit geringer Ausprägung, die größere Beschwerden hatten. Denk dran, Bildgebung korreliert nicht zwingend mit Beschwerden.
Quellen
(1) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Skoliose (Zugriff am 07.02.204)
(2) https://flexikon.doccheck.com/de/Skoliose (Zugriff am 07.02.2024)
(3) Witten, M. (Drehbuch) & O’Fallon, P. (Regie). (29.08.2006). Versteckte Wahrheit (Staffel 1, Folge 17) [Episode einer TV-Serie]. Dr. House
(4) https://deutsches-skoliose-netzwerk.de/skoliose-informationen/ (Zugriff am 07.02.2024)
(5) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Scoliosis_cobb.svg (Zugriff am 07.02.2024)
(6) https://www.physiomeetsscience.net/idiopathische-skoliose-als-ursache-von-rueckenschmerzen/ (Zugriff am 07.02.2024)
(7) https://www.physiomeetsscience.net/der-effekt-von-trainingstherapie-auf-juvenile-idiopathische-skoliose/ (Zugriff am 07.02.2024)
(8) https://www.physiomeetsscience.net/skoliose-was-nutzt-die-korsettversorgung-cochrane-review/ (Zugriff am 07.02.2024)
(9) Deutsche Wirbelsäulengesellschaft e.V. (DWG), Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU), S2k-Leitlinie Adoleszente Idiopathische Skoliose, Version 1.0, 15.03.2023, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/151-002 (Zugriff am 07.02.2024)
(10) https://deutsches-skoliose-netzwerk.de/nachschroth/ (Zugriff am 07.02.2024)
(11) https://diers.eu/de/produkte/wirbelsaeulenvermessung/diers-formetric-4d/
(12) Eikelmeier, Chris (2023). Diagnose sportunfähig!? : der Ratgeber für evidenzbasierte Rehabilitations- und Ernährungsstrategien bei Verletzungen und Schmerzen. Anröchte : Chris Eikelmeier
Wie Du vielleicht schon mitbekommen hast, ist mein Name Etienne Ries.
Ich bin Heilpraktiker, Osteopath und Physiotherapeut und schon von klein auf vom menschlichen Körper fasziniert. Nachdem ich mehrere Jahre als angestellter Physiotherapeut gearbeitet habe, habe ich mir 2021 den Traum der eigenen Praxis erfüllt und habe mich hier auf die Arbeit mit Schmerzpatienten und Sportlern spezialisiert. Wie Du im Blog merken wirst, sind das aber nicht meine ausschließlichen Behandlungsfelder. Zur Terminbuchung kommst Du übrigens bequem hier.
Diese Faszination versuche ich sowohl in meiner Arbeit an meine Patienten weiterzugeben, als auch mittels des Blogs und anderer Social Media Formate, wie YouTube…
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