Beinlängendifferenzen – die Wurzel allen Übels oder Normal?

Messung der anatomischen Beinlängendifferenz

Früher war das Becken für mich immer ein unglaublich wichtiger Ausgangspunkt in der Diagnosestellung. Ist das Becken gerade, gibt es Einflüsse über den Bauchraum oder liegt eine Beinlängendifferenz vor? Und gerade über Beinlängendifferenzen oder auch einen Beckenschiefstand lassen sich viele orthopädische Beschwerden erklären, in der Osteopathie erklärt man sich Beschwerden gerne über Ketten, die sich in alle möglichen Richtungen aufbauen lassen. Und über unterschiedlich lange Beine und daraus entstehende Ketten, eine Skoliose, einseitige Überlastungen der Beine oder auch Beschwerden im oberen Rücken bis hin zu Schwindel und Kopfschmerzen zu erklären, ist leichter, als Du im ersten Moment vielleicht denken wirst. Ob sich hierin dann allerdings immer die wahren Ursachen finden lassen, ist dann wieder ein anderes Thema. In diesem Artikel schauen wir uns gemeinsam an, wie Beinlängendifferenzen eigentlich festgestellt werden und welche Methoden hier gut und welche schlecht sind. Ebenso werden wir auch klären, ob ein Beinlängenunterschied wirklich so ein großes Problem ist, wie es oft geschildert wird und wie wichtig das Thema für die Behandlung ist. Funktionelle vs. anatomische Beinlängendifferenz Zunächst schauen wir uns eine wichtige Unterscheidung an, wenn es um Beinlängendifferenzen geht: den Unterschied zwischen einer anatomischen und einer funktionellen Beinlängendifferenz. Beim einen Fall können Einlagen oder auch sogar speziell angepasste Schuhe eher mal Sinn ergeben, im anderen Fall gibt es oft noch mehr Ansatzmöglichkeiten. Ebenso sind manche Tests in der Diagnostik nicht geeignet, um zu unterscheiden, welche Art von Beinlängendifferenz vorliegt. Da wir uns die Tests auch noch anschauen werden, macht es Sinn vorher die beiden Begrifflichkeiten zu definieren. Anatomisch Die anatomische Beinlängendifferenz lässt sich sehr schnell erklären, hier sind die Beine wirklich unterschiedlich lang. Der Grund kann im Oberschenkel bzw. im Bereich des Unterschenkels liegen. Mögliche Gründe sind Knochenbrüche, die Genetik oder auch in Folge schwererer neurologischer Erkrankungen. Funktionell Von außen betrachtet wirkt es so, als ob die Beine unterschiedlich lang wären, zum Beispiel, weil das Becken „schief ist“. Gründe können beispielsweise Gelenkfehlstellungen sein oder unterschiedlich ausgeprägte Fußgewölbe. Die einfachsten Fälle, die ich persönlich in der Behandlung hatten zeigten lediglich eine unterschiedliche Spannung beider Seiten, im Bereich der Muskulatur zwischen Beckenkamm und unteren Rippen. Aber auch, wenn Du ein Knie beispielsweise nicht komplett durchstrecken kannst, kann es so wirken, als ob beide Beine unterschiedlich lang wären. Diagnose Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Beinlängendifferenzen festzustellen, manche sind nur mehr oder weniger genau und werden meiner Erfahrung nach sehr häufig angewendet, andere wiederum sind sehr genau, werden allerdings seltener angewendet. Wir arbeiten uns mal von den häufigen, eher ungenauen, zu den genaueren, eher selteneren Tests durch. Blickdiagnostik mittels Becken Was vermutlich die meisten kennen dürften, ist, wenn Du als Patient gerade steht, der Behandler legt die Hände auf die Beckenkämme (crista illiaca) und schaut, ob beide Seiten auf einer Höhe sind. Das lässt sich auch über die Vorder- und Hinterseite des Beckens (an den sogenannten spina iliaca anterior/ posterior superior) machen, wird aber weniger genutzt. Zum einen, weil man in der Osteopathie oder auch in einigen anderen manuellen Behandlungstechniken davon ausgeht, dass das Becken verdreht sein könnte, also eine Beckenhälfte nach vorne oder hinten gedreht stehen könne und zum anderen, weil diese Knochenvorsprünge auch so unterschiedlich ausgeprägt sein können. Um die Aussagekraft dieser Untersuchungsform zu erhöhen, wäre es eigentlich sinnvoll, sich alle drei Punkte anzuschauen und zu vergleichen. Erfahrungsgemäß passiert das allerdings eher selten. Teilweise kommen auch sogenannte Beckenwaagen zum Einsatz, die Du auf dem nebenstehenden Bild siehst. Diese funktionieren mehr oder weniger als eine Art Wasserwaage, die auf beiden Seiten am Becken angelegt wird. Persönlich habe ich diese allerdings noch nicht verwendet, da diese Methode zwar starke Auffälligkeiten zeigen kann, wenn es allerdings in kleinere Unterschiede geht, wird es sehr schnell ungenau, sodass ich hier eine Messung für nicht sinnvoll erachten würde. Die Verlässlichkeit der manuellen Untersuchung (also mit den Händen des Therapeuten) scheint eine moderate Genauigkeit aufzuweisen (1). Beine messen Eine Methode, die ich in der Behandlung lange nicht verwendet habe, die wir aber im Physiostudium beigebracht bekommen haben und die auch praktikabel und relativ genau ist, ist das direkte Messen der Beinlänge. Hier gibt es sogar zwei verschiedene Methoden. Mit der einen wird die funktionelle Beinlänge gemessen und über die andere die anatomische Beinlänge. Die Messung erfolgt in beiden Fällen in Rückenlage. Wenn Du die funktionelle Beinlänge messen willst, misst Du vom Außenknöchel bis zur sogenannten Spina iliaca anterior superior. Diese findest Du vorne an der Beckenschaufel, als höchsten und prominentesten Punkt. Erkennen kannst Du das auf dem ersten Bild unter diesem Text. Geht es Dir um die anatomische Beinlänge, dann misst Du vom Innenknöchel zum Trochanter major, dem prominentesten Punkt seitlich an der Hüfte. Erkennen kannst Du das auf dem 2. Bild unter diesem Text. Die Methode ist von der Genauigkeit zwar schlechter als das Röntgen, scheint aber dennoch eine brauchbare Alternative für den Praxisalltag zu sein, mit einer vernünftigen Verlässlichkeit (2). Bildgebende Diagnostik Nach wie vor der Goldstandard, wenn es um die Bestimmung einer anatomischen Beinlängendifferenz geht und wenn man auch exakt messen will, wie groß der Unterschied ist, ist die bildgebende Diagnostik. Hierzu kommen Röntgen oder CT zum Einsatz, die sowohl im Stehen, als auch im Liegen erfolgen können. Manche funktionellen Beinlängenunterschiede dürften sich vermutlich erst im Stehen zeigen. Was ist normal? Die Gretchenfrage: ab wann ist der Unterschied ein Problem und wann natürliche Asymmetrie. Hierzu gibt es ehrlicherweise keine Einigkeit, was für mich persönlich auch nachvollziehbar ist, denn jeder Körper wird anders reagieren und die Frage ist auch, wie lange er Zeit hat, sich auf die Asymmetrie einzustellen. Studien deuten darauf hin, dass bis zu 90 % der Bevölkerung eine Beinlängendifferenz von bis zu 1 cm aufweisen (3, 4). Es scheint, als ob erst ab einem Unterschied von über 2 cm häufiger Probleme auftreten und ab 5 mm könnte es langfristig bei manchen Personen zu Beschwerden kommen (4). Unterschiede von bis zu 5 mm scheinen sich nicht unangenehm bemerkbar zu machen und erst ab 1 cm scheinen Probanden zu spüren, wenn eine künstliche Beinlängendifferenz geschaffen wird (5). Auch zeigten sich nur minimal veränderte Bewegungsmuster im Gang, bei künstlich geschaffenen Beinlängendifferenzen von bis zu 3

Was ist Skoliose und muss die Wirbelsäule gerade sein?

Messung des Cobb-Winkels zur Bestimmung des Schweregrades einer Skoliose

An der Wirbelsäule ist nach einem Bandscheibenvorfall die Skoliose glaube ich das „Krankheitsbild“, über das es die meisten Mythen und Missverständnisse gibt. Warum die Wahrheit irgendwo zwischen Rollstuhl und ist komplett egal liegt, soll das Thema des heutigen Blogartikels sein. Ja, es gibt Momente, in denen man eine Skoliose etwas genauer im Auge behalten sollte, das ist bei Heranwachsenden, vor allem im Laufe der Pubertät, wenn auch Wachstumsschübe anstehen. Gerade in dieser Zeit gilt es aber, dass Behandler noch mehr auf ihre Wortwahl achten, im Umgang mit Patienten. Denn Nocebos sind hier leider sehr weit verbreitet und werden teils als Rechtfertigung für unnötige Therapien genutzt. Was ist eine Skoliose? Das Wort Skoliose stammt aus dem altgriechischen Wort skolíōsis und bedeutet so viel wie Krümmung. Das stellt auch schon eine gute Beschreibung des „Problems“ dar. Bei einer Skoliose ist oft das Auffälligste eine seitliche Wirbelsäulenkrümmung (wenn Du von hinten oder vorne auf die Wirbelsäule schaust). Dazu kommt noch eine Rotation der Wirbelsäule. Am bekanntesten ist vermutlich die S-Form bei einer Skoliose, bei der sich zwei Bögen bilden (ein Punkt, den wir später nochmal aufgreifen werden). Ursachen Unterschieden wird bei der Skoliose in zwei verschiedene Varianten. Die idiopathische (auch primäre) Skoliose und die sekundäre Skoliose. Ungefähr 90 % der Skoliosen sind idiopathisch, das heißt, die Ursache ist nicht bekannt. (2) Oder um es mit den Worten von Dr. House zu sagen: „Idiopathisch, Lateinisch. Übersetzt: Wir sind Idioten, weil wir nicht rausfinden, was es ist.“ (3) Die Beschreibung ist, glaube ich einprägsamer, auch wenn ich House minimal korrigieren muss, denn das Wort stammt aus dem altgriechischen. Von der idiopathischen Skoliose sind Mädchen eher betroffen als Jungs und sie tritt meist kurz vor oder in der Pubertät auf. (2) Eine Unterteilung findet hier lediglich anhand des Alters der Entstehung statt (4): Säuglingsskoliose (innerhalb 1. Lebensjahr) Infantile Skoliose (1. bis 3. Lebensjahr) Juvenile Skoliose (4. bis 10. Lebensjahr) Adoleszentenskoliose (11. bis 18. Lebensjahr) Adulte idiopathische Skoliose (ab dem 18. Lebensjahr)   Demgegenüber steht die sekundäre Skoliose. Hier lässt sich eine Ursache benennen. Die Ursachen werden meist in verschiedene Hauptgruppen unterteilt (4): Osteopathische Skoliosen (bedeutet in diesem Kontext durch den Knochenfehlbildungen oder Knochenverformungen bedingt) Myopathische Skoliosen (durch primäre Muskelerkrankungen, wie z.B. Muskeldystrophien) Neuropathische Skoliosen (durch Nervenerkrankungen) Fibropathisch (durch Bindegewebsveränderung wie Narbenzug oder Marfan-Syndrom) Der Schweregrad wird normalerweise anhand des sogenannten Cobb-Winkels bestimmt. Die Bestimmung dieses Winkels erfolgt anhand einer Röntgenaufnahme der Wirbelsäule, idealerweise im Stand. Der Winkel beschreibt die Krümmung der Wirbelsäule am jeweiligen Bogen der Skoliose.  Nebenstehend findest Du eine schematische Darstellung der Bestimmung des Cobb-Winkels. Als Ausgangspunkte zur Winkelmessung werden die beiden sogenannten Neutralwirbel genutzt (im Bild etwas heller).  Diese stellen den Übergang von einer Krümmung zu einer anderen dar. Vielleicht auch interessant, der Messfehler wird mit ca. 3° angegeben, das heißt der reale Wert kann auch 3° über oder unter dem gemessenen liegen.   Bild 1 (5) Mögliche Beschwerden Dieser Punkt lässt sich sehr schwer beantworten. Da die Palette sehr groß ist und nicht zwingend mit dem Cobb-Winkel zusammenhängen muss. Ein Zusammenhang mit Schmerzen scheint zumindest nicht zu bestehen. (6) Größere Beschwerden, wie Atembeschwerden entstehen beispielsweise nur bei stark ausgeprägten Skoliosen, bei denen es zu einer Enge der Brust- und Bauchorgane kommen kann. (2) In jungem Alter sind Beschwerden eher selten, hier erfolgt die Diagnose meist eher, da optische Dinge auffallen, wie ein Schulterschiefstand oder ein sogenannter Rippenbuckel. (2) Als kritische Schwelle wird oft ein Cobb Winkel von 30° (8) oder auch 30-50° (7) angesehen. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Die Therapie richtet sich zum einen am Cobb-Winkel und zum anderen auch am Alter des Patienten bzw. ob er sich noch im Wachstum befindet. Bei dem Cobb-Winkel wird noch unterschieden, ob die Krümmung sich im Bereich der Brustwirbelsäule (thorakal) befindet oder ob auch der unteren Rücken einen Teil der Krümmung beinhaltet (thorakolumbal bzw. lumbal). (9) Eine allgemeine Empfehlung sowohl für heranwachsende, als auch ausgewachsene Patienten ist übrigens sportliche Betätigung mit Schwerpunkt Rumpfstabilität. Physiotherapie Physiotherapie kann ergänzend durchgeführt werden. Hier liegt der Schwerpunkt in der Kräftigung des Rumpfes. Das kann entweder durch allgemeine Übungen erfolgen oder auch durch spezifische Übungen. Beide zeigen eine Effektivität, scheinen sich allerdings bzgl. der Effektivität nicht zu unterscheiden. (7,8) Auch wenn evtl. weitere Therapiemaßnahmen erforderlich werden, wie ein Korsett oder sogar eine Operation, so wird eine physiotherapeutische Mitbehandlung meist empfohlen (9). Therapie nach Schroth Die Skoliosetherapie nach Schroth ist nach Katharina Schroth (1894-1985) benannt. Sie selbst litt unter Skoliose und entwickelte ihr Konzept im Selbstversuch, als medizinischer Laie.  Ziel des Konzepts ist es, anhand gezielter Atem- und Kräftigungsübungen die Wirbelsäule in eine möglichst „gerade“ Position zu bringen, quasi aktiv die Skoliose auszugleichen. Osteopathie Laut Leitline kann eine osteopathische Behandlung ergänzend zur Primärtherapie einen positiven Effekt haben, zum Beispiel auf Schmerzen. Auch bei funktionellen Skoliosen aufgrund von Beinlängenunterschieden wird darauf hingewiesen, dass osteopathische Behandlungen sinnvoll sein können. (9) Allerdings weisen die Autoren auch darauf hin, dass das Evidenzlevel der Studien noch nicht ausreichend sei, um Osteopathie zu einer Verbesserung des Cobb-Winkels zu empfehlen. (9) Korsettversorgung Wenn die Patienten sich noch im Wachstum befinden und der Cobb-Winkel der größten Krümmung der Skoliose entweder bei über 25° im Bereich des Brustkorbs oder über 20° mit Beteiligung der Lendenwirbelsäule beträgt, sollte laut Leitlinie zusätzlich ein Korsett genutzt werden. (9) Durch ein Korsett kann die Progression (das Fortschreiten) des Winkels signifikant gesenkt werden, bei einem Winkel bis zu 40°. Es wird häufig eine Tragezeit von 20h pro Tag (8) oder sogar 18-23h (9) empfohlen.  Da das Tragen eines Korsetts für junge Patienten psychisch belastend sein kann, weisen die Autoren der Leitlinie darauf hin, dass auch auf diesen Aspekt eingegangen werden sollte und bei Bedarf auch eine psychologische Beratung angeboten werden sollte. (9) Kontrolluntersuchungen Während des Wachstums sollte eine regelmäßige Kontrolluntersuchung stattfinden, um die Therapie engmaschig zu kontrollieren. In der Pubertät wird eine Verlaufskontrolle in einem Abstand von 4 bis 6 Monaten empfohlen. (9) Standardmäßig wird häufig Röntgen eingesetzt, um die Verlaufskontrolle durchzuführen, was aufgrund der Strahlenbelastung natürlich nicht optimal ist. Es ist aber nach wie vor die genaueste Methode.  Eine alternative, die sogenannte Rasterstereographie (auch bekannt unter

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