Kurze Antwort: Nein! Kann es trotzdem manchmal hilfreich sein, sich regelmäßig zu dehnen? Klare Antwort: Ja!

Diesen scheinbaren Widerspruch möchte ich gerne mit Dir im folgenden Text auflösen, viel Spaß beim Lesen:

 

Physiologischer Effekt (1)

Was passiert eigentlich genau im Körper, vor allem der Muskulatur, wenn Du diese dehnst? Diese Frage lässt sich leider nicht abschließend beantworten. Es werden vier Effekte diskutiert.

  1. Der Muskel wird länger (strukturelle Anpassung)
  2. Der passive Tonus wird geringer (strukturelle Anpassung)
    • Veränderung der „Festigkeit“ aller Bestandteile des Muskelgewebes
  3. Der aktive Tonus wird geringer (funktionelle Anpassung)
    • Veränderung der elektromyographischen Aktivität (elektrische Aktivität der Muskulatur)
  4. Die Toleranzgrenze verschiebt sich und lässt mehr Bewegung zu (sensorische Anpassung)

Nach aktueller Studienlage scheint der größte Effekt auf die Verbesserung der Beweglichkeit durch den 4. Punkt zustande zu kommen.

Wenn Du Dich über einen Zeitraum von mindestens 4 Wochen regelmäßig dehnst, kannst Du eine Steigerung der Beweglichkeit erzielen. Wichtig zu wissen ist, dass alle Dehnmethoden einen Vorteil für die Beweglichkeit bringen, mit einem gewissen Vorteil für das statische Dehnen.

 

Wie es gibt mehr als nur langes Halten zum Dehnen?

Je nachdem, wie groß Deine Vorerfahrung im Sportbereich ist, wirst Du möglicherweise nur statisches Dehnen kennen. Es gibt allerdings mehrere weitere Möglichkeiten, sich zu dehnen. Grob unterteilen kannst Du die Formen in statisches und dynamisches Dehnen bzw. Mischformen.

 

Statisches Dehnen

Beim statischen Dehnen hältst Du die Dehnposition für einen längeren Zeitraum, hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Einen Vorteil, den das statische Dehnen in meinen Augen hat, ist der Punkt, dass man deutlich spürt, wenn der Dehnreiz nachlässt.

Diese Form lässt sich sowohl aktiv als auch passiv durchführen.

 

Dynamisches Dehnen

Hierzu zählt beispielsweise das ballistische Dehnen. Du näherst Dich der Endposition einer Bewegung und federst immer wieder in Richtung des Bewegungsendes.

 

Mischform

Eine Mischung des ganzen ist das PNF-Dehnen. Die Abkürzung PNF steht ausgeschrieben für Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation und ist eigentlich ein neurologisches Therapiekonzept der Physiotherapie.

Beim PNF-Dehnen geht man so vor, dass sich statisches Dehnen und aktives Anspannen des Muskels, der gedehnt werden soll, abwechseln. Der Vorteil ist, dass hierdurch kurzfristig eine größere Verbesserung der Beweglichkeit erreicht werden kann. Ob dieser Effekt auch langfristig größer ist, darauf gehen wir später noch ein.

 

Effekte von Dehnübungen
Verbesserung Beweglichkeit (1)

Das typischste Ziel, dass vermutlich die meisten verfolgen werden, ist das Verbessern der Beweglichkeit. Hierfür eignen sich alle oben genannten Dehnformen. Ein gewisser Vorteil scheint für das statische Dehnen gegeben zu sein (2).

Laut Thomas et al. scheint es keinen Unterschied zu machen, ob Du die Dehnung weniger als 60 Sekunden, zwischen 60 und 120 Sekunden oder über 120 Sekunden hältst. Viel wichtiger ist, wie häufig das Programm durchgeführt wird. Der größte Effekt scheint hier bei 6 Tagen die Woche gegeben zu sein, wenn das Programm über mindestens 4 Wochen durchgeführt wird.

 
Positive Effekte auf das Gefäßsystem (3)

Dieser Punkt war auch für mich während der Recherche neu, auch wenn ich einen der Effekte unbewusst teilweise für mich genutzt habe.

Während sich Parameter wie Blutdruck, Puls in den Extremitäten und Herzfrequenz im vorher nachher Vergleich nicht durch eine Dehnung verändern, zeigt sich eine signifikante Verbesserung der Elastizität der Gefäßwände und der Pulswellengeschwindigkeit im gedehnten Gefäß. (4)

Zusätzlich scheint ein positiver Effekt auf das vegetative Nervensystem gegeben zu sein (5). Durch ein Dehnen aller großen Muskelgruppen scheint die Parasympathikusaktivität zu steigen und der Sympathikus gehemmt zu werden. Wenn Du nicht mehr weißt, was Sympathikus und Parasympathikus sind, kannst Du gerne in folgendem Artikel von mir nachschauen.

Diesen Punkt habe ich für mich selbst bereits positiv in der Marathonvorbereitung dieses Jahr genutzt, ohne die Studie zu kennen. Nach langen Läufen fiel mir auf, dass mein Schlaf und meine Erholung deutlich besser wurde, wenn ich mich zum Abend hin noch gedehnt hatte.

 
Positive Effekte auf Nerven (6)

Für neurale Strukturen gibt es verschiedene Möglichkeiten, deren Mobilität zu verbessern. Hier wären zum einen Slider zu nennen und zum anderen Tensioner. Auch passive Dehnungen sind eine Möglichkeit, Einfluss auf die Mobilität zu nehmen.

Slider und Tensioner kannst Du gegensätzlich sehen. Beide sind für die entsprechenden Nerven spezifisch in der Ausführung. Vereinfacht gesagt versucht man bei einem Slider den Nerv in einem Bereich zu bewegen, indem kein Dehnreiz zu spüren ist. Hierfür wird über eine Seite Spannung aufgebaut, die andere Seite gibt der Spannung nach. Wohingegen beim Tensioner über beide Seite Zug auf den Nerv aufgebaut wird.

Durch die Übungen lässt sich eine deutliche Verbesserung der Steifigkeit des Nervs, der Beweglichkeit gegenüber des angrenzenden Gewebes und der Schmerzen erzielen.

 
Nachteile

Wie oben aufgezeigt, hat Dehnen durchaus einige positive Effekte, die Du Dir zunutze machen kannst. Ein Nachteil zeigt sich zum Beispiel bei Läufern. Ein Dehnen vor dem Laufen scheint die Laufökonomie und die Performance zu verschlechtern, und zwar für bis zu einer Stunde nach dem Dehnen. (7)

 
Fazit

Wie ich Dir hoffentlich zeigen konnte, gibt es einige positive Effekte des Dehnens und wenige Nachteile. Wenn es also etwas ist, was Du für Dich nutzen möchtest, spricht wenig dagegen. Geht es Dir allerdings um die Behandlung von Schmerzen, so gibt es Methoden, die sich vielleicht eher anbieten, wie beispielsweise Krafttraining. Wenn Du die Befürchtung hast, hierdurch unbeweglich zu werden, kann ich Dich beruhigen.

Krafttraining scheint einen ähnlichen Effekt auf die Beweglichkeit zu haben, wie Dehnübungen. (8) Hier hast Du dann auch noch weitere positive Effekte, die Du Dir zunutze machen kannst. Beispielsweise lässt sich hierdurch eine erhöhte Belastbarkeit gereizter Strukturen erzielen, was langfristig oft eher zu Schmerzfreiheit führt.

Es kommt also wie immer darauf an, was Dein Ziel ist. Brauchst Du Hilfe dabei, Deine Behandlung und Dein Übungsprogramm konkret zu planen? Nimm gerne zu mir Kontakt auf.

 

Quellen

(1) https://www.physiomeetsscience.net/warum-macht-dehnen-beweglicher-die-mechanismen-im-ueberblick/ (Zugriff am 08.12.2022)

(2) Thomas E, Bianco A, Paoli A, Palma A. The Relation Between Stretching Typology and Stretching Duration: The Effects on Range of Motion. Int J Sports Med. 2018 Apr;39(4):243-254. doi: 10.1055/s-0044-101146. Epub 2018 Mar 5. PMID: 29506306.

(3) https://www.physiomeetsscience.net/dehnen-und-das-gefaesssystem/ (Zugriff am 08.12.2022)

(4) Ikebe H, Takiuchi S, Oi N et al. Effects of trunk stretching using an exercise ball on central arterial stiffness and carotid arterial compliance. European Journal of Applied Physiology. 2022; 122: 1205.

(5) Kruse NT, Scheuermann BW. Cardiovascular responses to skeletal muscle stretching: “stretching” the truth or a new exercise paradigm for cardiovascular medicine? Sports Medicine. 2017; 47: 2507.

(6) https://www.physiomeetsscience.net/der-effekt-von-stretching-auf-neurale-strukturen/ (Zugriff am 08.12.2022)

(7) Baxter C, Mc Naughton LR, Sparks A, et al. Impact of stretching on the performance and injury risk of longdistance runners. Res Sports Med 2017;25:78–90.

(8) Afonso, J.; Ramirez-Campillo, R.; Moscão, J.; Rocha, T.; Zacca, R.; Martins, A.; Milheiro, A.A.; Ferreira, J.; Sarmento, H.; Clemente, F.M. Strength Training versus Stretching for Improving Range of Motion: A Systematic Review and Meta-Analysis. Healthcare 2021, 9, 427. https://doi.org/10.3390/healthcare9040427

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